Ukrainehaus empfängt Besuch aus Berlin
Michael Groß, Vorsitzender des Präsidiums des AWO Bundesverbandes, besuchte das Beratungszentrum Ukraine in Moers
„Das, was mir große Sorgen bereitet, ist der Zerfall unseres gesellschaftlichen Zusammenhaltes“, so Michael Groß bei Gesprächen im AWO Beratungszentrum Ukraine. Im Rahmen seiner etwas später nachgeholten Sommer-Tour war der Vorsitzende des Präsidiums des AWO-Bundesverbandes nun in Moers zu Gast.
Bei einem mehrstündigen Treffen mit den Verantwortlichen des Beratungszentrums, dem Vorstand des Kreisverbandes Wesel, AWO KV Wesel Präsident Ibrahim Yetim, Ehrenamtlern und vielen ukrainischen Unterstützer*innen, gab es viel Zeit zum Austausch. Informativ, bewegend, emotional. Diese Worte beschreiben den gemeinsamen Vormittag in lockerer Runde wohl am besten.
Beeindruckt zeigte sich Groß vor allem vom breiten Angebot im Beratungszentrum sowie vom großen Engagement aller Beteiligten. Nach der Begrüßung stellten Olga Weinknecht, Fachbereichsleitung Beratung, Inklusion und Innovation, sowie Evi Mahnke, Koordinatorin im Beratungszentrum, das umfangreiche Angebot für Ukrainer*innen vor.
Gehen wir gut zweieinhalb Jahre zurück. Wie kam es zur Entstehung des Ukrainehauses? Am Morgen des 24. Februars 2022 lief auf allen Kanälen in allen Medien die Nachricht: „Russland hat die Ukraine überfallen“. Nur einen Tag später fand im Alten Landratsamt in Moers eine Kundgebung statt. Täglich kamen Ukrainer*innen an, die vor dem Krieg flüchteten. Die AWO kümmerte sich um ihre Unterbringung, stellte freistehende AWO-Wohnungen zur Verfügung, da sie nicht ausreichten, wurden Gastfamilien gesucht. Wichtig sei es den Verantwortlichen vor allem gewesen, dass die Geflüchteten schnell in ihre Unterkünfte einziehen konnten. Hier konnte Weinknecht auf ein gut aufgestelltes Team von Ehrenamtler*innen, geleitet von Dr. Bernd Siemund, zurückgreifen. Vom Möbeltransport, über die Einrichtung, Anschlussarbeiten und Transporte, arbeiteten sie unermüdlich, um zu helfen. „Auch die Offenheit der Menschen, Fremde zu beherbergen, war groß”, blickt Weinknecht dankend zurück.
Im März wurden die ersten Anträge auf Zusatzförderungen im Ukrainekontext gestellt, das Projekt „Nadia” wurde konzipiert, bei der Aktion Mensch beantragt und auch bewilligt. Das war quasi die Geburtsstunde des Ukrainehauses.
Der größte Zustrom an Geflüchteten sei im März/April 2022 angekommen. Inzwischen habe sich ein gutes Netzwerk an Partnerinstitutionen- und einrichtungen aufgebaut. Die Integration funktioniere mal gut und mal weniger gut. Einfach sei es nicht immer. Das bestätigt auch Yuliia Sapytska, Kursleiterin der Frühförderung für Kinder und Ergotherapie. In der Ukraine studierte die junge Frau Neuropsychologie. Hier in Deutschland wird ihre Ausbildung jedoch nicht anerkannt. „Ich habe hier quasi nichts in den Händen”, so Yuliia besorgt. Bis zur Anerkennung der ukrainischen Berufsabschlüsse dauere es ca. ein Jahr. „Dabei sind die meisten sehr motiviert und möchten gerne arbeiten”, erklärt Evi Mahnke. „Die Berufsanerkennung ist ein großes Problem.”
Artem Kobzan, der auch in der Runde saß, nickte zustimmend. Der Ukrainer ist in der außerschulischen Kinder-/Jugendarbeit beim AWO KV Wesel tätig. Er leitet zwei Gruppen von 13 bis 16-jährigen Heranwachsenden des Jugendtheater-Studios. In seiner Heimat war Artem ein bekannter Drehbuchautor, der viele Serien für das ukrainische Fernsehen schrieb. „Auch ich kenne das Problem mit der Anerkennung der Qualifikationen”, sagt er bedrückt. „Es sind einem die Hände gebunden.”
Ein weiteres Thema, das Michael Groß ansprach, waren die geplanten Kürzungen im Sozialhaushalt des Landes NRW um insgesamt 83 Millionen Euro. Ein Großteil der Sozialberatungen für Geflüchtete würden dann wegfallen. „Eine Katastrophe”, wie Olga Weinknecht beschreibt. „Wir werden mit unseren Beratungen an den Rand gedrängt!” Im Ukrainehaus stehen ja eben genau diese Beratungen ganz oben. Hier gibt es die Migrations-, und Flüchtlingsberatung, die psychosoziale Beratung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die Arbeits-,und Ausbildungsvermittlung, Kurse, Veranstaltungen, Aktionen und die ehrenamtliche Betreuung, wie zum Beispiel die Mitarbeit von Michael Werth-Hauck, ehrenamtlicher Kursleiter der Sprachkurse „Erste Schritte in Deutsch“ für ukrainische Senior*innen und Leiter von Sprachkursen zur Vorbereitung auf Prüfungen B1 / B2. Iryna Kravets leitet die Seniorengruppe „Happy Age” und den Frauenchor „Synergy”: „Im Kurs geht es vor allem darum, dass Senior*innen nicht vereinsamen und alleine zuhause bleiben. Zudem geben wir Infos zu alltäglichen Dingen, wie zum Beispiel zur Planung eines Arztbesuches”, so Kravets, die in der Ukraine als Professorin der Wirtschaft tätig war.
Mit großer Begeisterung erzählte Liudmyla Khmarina, Leiterin des Kinderchors „Silver Bells“ und der Jugendband „White Clothes“ über ihre Arbeit mit Kindern und Jugendlichen aus vier Nationalitäten. Katerina Korschunova leitet eine Kunstgruppe für Kinder und wünscht sich, dass diese kreative Beschäftigung zur emotionalen Entlastung der traumatisierten Kinder beiträgt.
Trotz vieler Umstände und Herausforderungen sind viele Ukrainer*innen inzwischen in Deutschland angekommen. Auf die Frage von Michael Groß „Möchtet ihr denn zurück in die Ukraine, wenn der Krieg beendet ist?” waren sich die Gesprächsteilnehmer*innen größtenteils einig. „Nein”, wir haben hier unser Leben aufgebaut und möchten in Deutschland arbeiten und bleiben”, hieß es.
Zum Schluss gab es noch ein spontanes Ständchen des Frauenchores „Synergy”. Bei einem Mittagessen mit der ukrainischen Spezialität “Borschtsch” klang der Vormittag aus. Abschließend zeigt sich Michael Groß tief beeindruckt: “Menschen, die Verletzungen der Seele, des Herzens erlebt und vielleicht auch die Hoffnung auf ihre Rückkehr in die Heimat verloren haben, nehmen ihr Leben in die Hand, unterstützen mit viel Engagement, Kompetenz und begeisternd Nachbar*innen, Hilfesuchende, Verzweifelte und Traumatisierte. Das Ehrenamt, Mitarbeitende und Entscheidungsträger*innen in der AWO haben sofort und schnell gehandelt - als Hilfe notwendig war. Das war und ist eine der beeindruckendsten Stationen meiner Reisen gewesen.“